Innovation unter dem Zeltdach

Bereits im Vorzelt überraschte Roncalli die Besucher mit einer kleinen, hübsch gemachten Ausstellung zur eigenen Geschichte. Vorgeschmack auf jenes Museum, das zukünftig am Standort Köln entstehen soll. Wie ein Leitspruch zur Neuausrichtung klang dabei ein präsentiertes Zitat, das einmal aus dem Mund des legendären Clowns Grock (1880-1959) gekommen ist:

„Ein Mensch, der fertig ist, hat kein Ziel. Ein Mensch, der zufrieden ist, kann nichts mehr leisten. Daher Arbeit, Arbeit und Arbeit.“

Bereits hier setzte die zarte Ahnung ein, dass dieser Zirkus eine Runderneuerung ansteuert.

Ansagen des Roncalli-Chefs

Roncalli-Chef Bernhard Paul selbst lässt es sich nach dem Eröffnungstusch der Musizierenden nicht nehmen, das Osnabrücker Publikum persönlich zu begrüßen. Der 75-jährige, anno 1975 gemeinsam mit André Heller in Wien Mitgründer des Zirkus, freut sich sichtlich über das volle Zelt. Er zeigt Stolz nach einer schwierigen Zeit und vermittelt zum Schluss, mit viel Applaus, eine Vision für das örtliche Publikum: „Irgendwann kam Corona. Zwei Jahre konnten wir uns nicht zeigen. Niemanden haben wir trotzdem entlassen. Bald werden wir unser 50-jähriges Bestehen feiern – womöglich zur Weihnachtszeit in Osnabrück.“

Warum es nicht schlicht „Zirkus Roncalli“, sondern „Circus Theater Roncalli. All for Art for all“ heißt, wird den Besuchenden bereits bei ersten Events auf der Manege klar. Ein ständig wechselndes Programm mit bombastischer Artistik, Jongleur-Kunst, Magie, Konzert, Gesang bis hin zu Clowns fesseln schnell das Publikum. Ideal montierte Scheinwerfer, künstlicher Bodennebel bis hin zu Ballons und Seifenblasen in allen Formaten durchziehen den kurzweiligen Abend. Dass die, auch vom Verfasser erwarteten 3-D-Projektionen virtueller Vierbeiner nicht zu sehen sind, vermisst im Grunde niemand. Alles ist echt, null Konserven.

„Die Kunst war bei uns immer schon da. Aber jetzt führen wir die Dinge zusammen“, hatte der Roncalli-Chef bereits im facettenreich und bunt gestalteten Programmheft versprochen.

Programm auf der Manege

Nur skizzenhaft soll aufgereiht werden, was für das zukünftige Publikum in der Manege zu erwarten ist. Vor allem sind es häufig Zirkusmenschen, deren familiäre Gene zur Einbahnstraße in die Manege geführt haben. In dritter Generation fasziniert gleich zu Beginn der gebürtige Spanier Jonny Rico das Publikum, beginnt scheinbar belanglos und tölpelhaft, um sich im Laufe des Abends als Animateur, Clown, Musikant, Akrobat wie genialer Jongleur zu beweisen. Der in Russland und in der Ukraine aufgewachsene Clown Anatoli Akermann lebt bei seinen Einlagen von einer Einbeziehung des Publikums und stets neuen Überraschungseffekten. Die Clowns Gensi oder Paolo Carillon beherrschen völlig andere Clown-spezifischen Rollen perfekt. Die Britin Krissie Illing überzeugt durch sehr kurzweilige Zwischeneinsätze mit gespielter Tölpelhaftigkeit.

Das Duo Minasov demonstriert Magie in Hochform. In Bruchteilen von Sekunden wechseln Mann und Frau ihre Kleidung, ohne das Zuschauende nur ansatzweise begreifen können, wie das funktioniert. Weitere Magie-Auftritte anderer Akteure folgen mit nicht kleinerem Zuspruch. Knochenlos erscheinende Körperkünstler wie Maria Sarach, das Duo Luna, Vanessa und Sven oder das pausenlos im Mehrfachsalto zu erlebende Männerquartett JUMP’N’ROLL machen Zuschauenden deutlich, wie begrenzt der eigene Bewegungsapparat angesichts derartiger Körperkünste ist. Stimmstarke Sängerinnen wie Sash oder Nox präsentieren ebenso wie das ausdruckstarke Roncalli-Ballett tänzerische Leistungen, die auf traditionellen Theaterbühnen keinen Vergleich scheuen müssen.

Wem bei Verwandtschaften mit tradierter Kunst nun noch das Metier der Malerei gefehlt hat, soll auch hier nicht enttäuscht werden. Als sehr ungewöhnlichen Act hat Roncalli-Chef Bernhard Paul Zirkus-Kollegen dazu animiert, als lebendige Bildnisse berühmter Maler, gut geschminkt und dekoriert mit dem passenden Rahmen, im Lauftempo durch die Manege zu eilen und als optische Anknüpfungspunkte für Werke von Michelangelo, Rembrandt, Spitzweg, Rubens, Munch, Hopper, Margritte oder Lichtenstein zu brillieren. Der bewusst mit wenig Artistik verzierte Programmteil dürfte die Hauptbotschaft der Roncalli-Verantwortlichen sein: Zirkuswelt ist zugleich auch Kunst – und keineswegs am schieren Kommerz orientierte Massenunterhaltung mit Verfallsdatum.


Zirkus und Kunst: Geht das zusammen?

Warum gilt ein Zirkus wie der von Roncalli nicht längst als pure Kunst? Denn alles, was in der Manege demonstriert wird, sind professionelle Sequenzen anerkannter Kunstrichtungen. Gesang, Konzert, Theater, Comedians, optische Faszination, Magie, Ballett und Bewegungsästhetik in Reinform. Weil diese Fragestellung, präsentiert durch Roncalli, nunmehr im Raume steht, ist die erste Prüfung des ästhetischen Lackmustests bereits bestanden. Denn Kunst, über die debattiert und auch gestritten werden kann, ist für die Spezies ein unverzichtbarer Baustein.

Mit nicht enden wollenden Standing Ovations verabschiede ich mich für dieses Jahr und sage jetzt schon, willkommen in 2023 auf dieser Seite